Das Weltbewusstsein des indischen Menschen war so geschichtslos, dass er nicht einmal die Erscheinung des von einem Autor verfassten Buches als zeitlich feststehendes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne dass die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätte.Es ist ein reizvoller Gedanke, sich die Perspektive eines Historikers der ferneren Zukunft vorzustellen, wenn er dereinst einen Blick auf die überkommenen Fragmente des heutigen Internets wirft. Einmal angenommen, der Textkorpus aller heutigen Blogs bliebe einigermaßen erhalten, würde daraus vermutlich ein nicht allzu anderes Bild entstehen wie das, welches Spengler dem antiken (im Zitat indischen) Geist zuspricht - das eines vornehmlich ahistorischen Gegenwartsbewusstseins.
(A.a.O., S. 15, herv. v. Soph.)
Dabei sind wir uns freilich stets des aktuellen Datums bewusst, verstehen die Chronologie der Jahre zu deuten. Jeder Blogeintrag wird mit Datum und Uhrzeit abgelegt und auch die Verlinkungen ermöglichen - in gewissen Grenzen - eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte.
Wer könnte sich in der "Blogosphäre" - der Gesamtheit aller Blogs - noch der Autorenschaft eines originellen Gedankens rühmen, da doch seine Abhängigkeit von den Ideen anderer so offenkundig ist, da stets andere ganz ähnliche Gedanken hegen und sie notieren. Die Blogosphäre so weniger einem Wald von klar voneinander abgegrenzten Bäumen, sondern mehr einem koloniebildenden Organismus, wie etwa der Koralle. Meme wechseln frei flottierend hin und her, entwickeln, verändern sich, verschwinden im Dunkeln bis sie unverhofft wieder emportreten. (Man denke hier an den von Ludwik Fleck geprägten Begriff des "Denkkollektivs".)
Der Grund für den ahistorischen Charaker der Blogs liegt in ihrer aphoristischen Natur, d.h. in ihrer Kürze. Zwar sind die Beiträge eines Blogs oft thematisch ausgerichtet damit inhaltlich miteinander verwandt. Doch ist dieser Zusammenhang lose und jeder Beitrag steht zunächst einmal für sich alleine. Eine geschlossene Abhandlung in Form einer Reihe von Blogbeiträgen ist zwar denkbar und technisch möglich, würde aber doch die Intention des Mediums verfehlen und die Gegebenheit seiner technischen Realisierung missachten. Man denke etwa daran, dass die Beiträge eines Blogs meist chronologisch von jung nach alt sortiert sind, während der Leser eines Buchs eine inhaltlich aufbauende, d.h. chronologisch umgekehrte Reihenfolge bevorzugt. (Diesem Aspekt wäre indes leicht auf technischem Wege entgegen zu treten, indem man die Sortierrichtung umkehrt.)
Die interessanteste Frage weist dabei allerdings in Richtung der Rezipienten: Ich wage zu vermuten, dass nur in den aller seltensten Fällen eine Bereitschaft besteht, sich auf die Beiträge eines Blog einzulassen, das dem Umfang eines normalen Buches entspricht: etwa 200-400 Seiten. Die für eine solche Lektüre zu erübrigende Zeit dürfte die Aufmerksamkeitsspanne auch interessierter Leser nicht unerheblich überschreiten.
Dessen ungeachtet wäre es allerdings ein überaus spannendes Experiment, ein umfassenderes Werk tatsächlich öffentlich zu entwickeln, und dem Leser unmittelbar die Gelegenheit zur Kommentierung zu geben. Zur Realisierung des Idealfalls, nämlich der Möglichkeit, beliebige Textstellen zu kommentieren, eignet sich Blogtechnik jedoch nur bedingt, die Kommentare doch nur für größere Texteinheiten zulässt. Zur Umsetzung dieses Experiments bedürfte es also einer Abwandlung der Blogtechnik, bei der am besten auch gleich die Möglichkeit einer Referenzierung von Kommentaren eingerichtet wird (was jetzt nur eingeschränkt möglich ist, da sich jeder Kommentar zunächst auf den Haupttext, d.i. Blogbeitrag bezieht.) Was hierbei entstehen würde, wäre eine dem Talmud entsprechende Sammlung von aufeinander bezogenen Texten und Kommentaren.
So reizvoll diese Vorstellung eines öffentlich erstellten Textes auch ist (die Idee ist wahrlich nicht neu), stellt sich doch die Frage, welcher Verfasser bereit wäre, sein Werk vor aller Augen zu entwickeln, verbindet sich doch mit dem Entstehungsprozess komplexerer Texte meist eine gewisse Scham. Wie weit dieses möglicherweise veraltete Konzept von Zurückhaltung heute jedoch noch Gültigkeit besitzt, lasse ich hier dahin gestellt. Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass sich nicht irgendjemand findet, der hierzu bereit wäre - die Frage ist nur, inwieweit irgendjemandes Produkt mit Gewinn zu lesen wäre. Doch auch dafür würden sich sicher Leser finden.
Das beste Beispiel eines ahistorischen Textes, wie Spengler ihn im o.g. Zitat beschreibt, ist zweifelsohne die Wikipedia: eine vage Textmasse, in die jeder hineinschreibt, was er will, ohne dass die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle spielten. Dabei versteht sich von selbst, dass die Entstehungsgeschichte jedes Beitrags sorgfältigst dokumentiert ist. Auch von einer Anonymität kann nur bedingt gesprochen werden; tatsächlich ist sie dennoch oft der Fall, indem Autoren und Beiträger sich nicht in jedem Fall mit der bürgerlichen Identität zu erkennen geben, ggf. nur eine IP-Adresse im Log vermerkt wird. Doch das ist keineswegs das Wesentliche. Weitaus gewichtiger ist das fehlende Interesse an der Urheberschaft seitens des Lesers eines Wikipedia-Beitrags. Wer jenseits akademischer Studien machte sich schon die Mühe, die Entstehung eines Wikipedia-Artikels haarklein von seiner ersten bis zur aktuell letzten Version zu verfolgen? In ehrwürdigen Enzyklopädien sind die Beiträge oft namentlich gekennzeichnet, etwa im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Der Wikipedia ist dieses Konzept gänzlich fremd und widerspricht ihrem Grundverständnis eklatant.
So mag es scheinen, dass wir gegenwärtig wieder auf dem Weg zu einem ahistorischen Bewusstsein sind, zu dem Bewusstsein eines reinen Gegenwartsmenschen. Diesem läge keineswegs das Fehlen historischer Aufzeichnungen zugrunde, sondern vielmehr ihre überbordende Fülle. Jedenfalls würde sich damit der dialektische Kreis in der Entwicklung der Kulturen schließen und in die nächste Iteration eintreten. Es bleibt spannend zu beobachten, wie sich aus den Gegebenheiten der Gegenwart ein neuer Geist entwickelt.
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