Dienstag, 26. April 2011

Existenzialistisches Star Wars

Ernsthafte und ernstzunehmende Philosophie ist im Netz nicht so leicht zu finden. Dafür gerne spielerische Adaptionen. Hier sind einige Szenen aus Star Wars mit Texten von Jean Paul Sartre unterlegt. Die Tonspur ist auf Französisch, die Untertitel auf Englisch. Auch nicht schlecht.

 

Montag, 28. März 2011

Anmerkungen zum Wahlausgang in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz

Der Wahlabend verlief spannend, die Sieger waren erwartungsgemäß Grün und, trotz allem, Rot. Auf der Verliererseite stehen zu Recht CDU und FDP, die nicht nur für hausgemachte Fehler abgestraft wurden (etwa der Umgang mit der Kritik an Stuttgart 21), sondern auch die Rechnung für die katastrophale Politik auf Bundesebene zu begleichen hatten. Und ganz richtig erkannten alle Protagonisten die überragende Bedeutung der Atomkatastrophe in Japan als wesentlichen Faktor für die Stimmverteilung an.

Es sei vor allem den Grünen von Herzen gegönnt, nun einmal richtig zu feiern. Sie haben mächtig Oberwasser, was gut und wichtig ist, sind sie doch die einzige Partei in der bundesdeutschen Parteienlandschaft, die für tatsächliche Nachhaltigkeit steht. Soziale Gerechtigkeit ist zweifelsohne bedeutsam, ebenso sind es bekömmliche Rahmenbedingungen für das Unternehmertum. So oder so: Arbeit muss sich lohnen, und auch wer keine hat - das gehört zum sozialethischen Konsens unserer aufgeklärten Gesellschaft - hat Anrecht auf soziale Teilhabe. Ohne eine gesunde Natur jedoch, die die zentrale Grundlage unserer Existenz darstellt, geht es nicht. Bei Strafe des Untergangs sind wir gehalten, pfleglich mit ihr umzugehen, uns in ihr zu verorten und einzurichten, statt sie zu unterwerfen. Für diese Denkungshaltung steht - zumindest in meinen Augen - die Politik der Grünen. Weiter so!

Allerdings dürfen die phantastischen Wahlergebnisse nicht darüber hinweg täuschen, dass sie lediglich eine Momentaufnahme der aktuellen Befindlichkeiten darstellen. Im Moment ist Fukushima das alle Gemüter bewegende Thema - zulasten etwa der sozialen Erhebungen in der arabischen Welt, die mit einigem Abstand an die zweite Stelle der allgemeinen Aufmerksamkeit gerutscht sind. Das wird nicht immer so bleiben - auch Katastrophen nutzen sich ab. Bald schon wird beispielsweise der eigene Geldbeutel seinen Anteil an den alltäglichen Überlegungen einfordern - und manchen mag dies dann doch dazu veranlassen, seine Entscheidung zugunsten des teureren Ökostroms noch einmal zu überdenken.

Vor allem ist aber die Bereitschaft der Wähler zur taktischen Stimmabgabe ins Kalkül zu ziehen. Das mag tröstlich sein für die SPD, die in Baden-Württemberg, vor allem aber in Rheinland-Pfalz schmerzliche Stimmverluste hinnehmen musste. Doch sind viele SPD-Wähler einer rot-grünen Konstellation nicht abgeneigt. Wer diese stärken möchte, wählt dann halt auch mal grün, selbst wenn er oder sie die SPD an der Regierung sehen möchte. Dies sei all jenen mit auf den Weg gegeben, die jetzt die SPD um Kurt Beck schlecht reden.

Für die Grünen bedeutet dies aber ein Aufruf zur Vorsicht: bei den nächsten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden ihre Stimmanteile wohl wieder schmerzlich schrumpfen. Hoffentlich auf noch über 5, aber wahrscheinlich doch weniger Prozent als gestern. Was nicht unbedingt an den Ergebnissen ihrer Politik liegen muss, sondern der Taktik geschuldet wäre.

Ähnlich stellt sich die Lage im Ländle dar, wo noch immer und trotz allem die CDU ein massives Wählerpotenzial besitzt. Dieses Mal hat es hauchdünn für Grün-Rot gereicht. Doch - siehe oben - Regierungen nutzen sich ab. Es wird die Grünen erhebliche Anstrengungen kosten, das Wählerpotenzial zu binden - und gegebenenfalls zu stärken. Und diese Anstrengungen liegen vor, nicht hinter ihnen!

Das soll den Wahlsiegern nun nicht die Sektlaune verderben. Vielmehr sollen diese Anregungen helfen, auch die nächste Wahlen zu gewinnen, möglichst auch wieder in Baden-Württemberg. Das wäre der beste Beleg für eine wahrlich nachhaltige Politik. Und wer weiß - vielleicht wird irgendwann ja auch einmal Bayern grün...

Freitag, 26. November 2010

Re:publica 2011

Da dieses Blog ein wenig zu verwaisen droht, mal schnell eine aktuelle Info (und ein bisschen Werbung):

Hab' mich gerade für die Re:publica 2011 angemeldet. Erstaunlicherweise waren bereits alle Early-Bird-Tickets weg. Ok, bin halt kein früher Vogel... Immhin gab's auch noch Blogger-Tickets, und normale natürlich sowieso.
Falls nochmal irgendwann ein Call for Paper kommt, würde ich sogar überlegen, einen Talk einzureichen. Thema wird noch nicht verraten. Aber mal abwarten. Vielleicht sind da ja auch andere früher dran.

Freitag, 8. Oktober 2010

Internet in Danger!

Gestern lief die erste Episode von "Tatort Internet- Schützt endlich unsere Kinder" bei RTL II.

Nun gut, über Geschmack lässt sich nicht streiten: Mir persönlich sagt die pathetische Form des Formats überhaupt nicht zu (um nicht zu sagen: sie widert mich an), aber das mögen andere anders sehen. Das eigentliche Problem ist ein anderes: es liegt in der unsäglichen Verquickung der Begriffe "Internet" und "Kindesmissbrauch". Dem Zuschauer wird wieder und wieder der Eindruck vermittelt, das Internet stelle einen einzigen Tummelplatz pädosexueller Triebtäter dar. Man wird nicht müde, das Internet als den "größten Tatort" der Welt zu bezeichnen, und auf die unglaublichen Gefahren zu verweisen, die darin lauern.
Aus den Begutachtungssituationen kenne ich viele, viele Täter, um nicht zu sagen fast ausschließlich auch Täter aus dem Bereich der Sexualkriminalität, die das Internet nutzen, mehr oder minder stark. Es gibt ja kaum noch einen Täter, der ein Vergewaltigungsdelikt begeht oder sexuelle Missbrauchshandlungen an Kindern begeht, der nicht vorher irgendwie im Internet irgendwie auffällig war. Wir finden bei fast allen Sexualstraftätern, oder Männern, die einer Sexualstraftat beschuldigt werden, auffällige Verhaltensweisen im Internet. Die gehen ins Internet, weil sie dort ein Bedürfnis befriedigen wollen.
(Prof. Dr. Michael Osterhaider, ab 21'20")
Dabei sollte die spezifische Nutzung der Internet durch potenzielle wie tatsächliche Sexualstraftäter nicht weiter verwundern, denn schließlich lassen sie auch ein spezifisches Verhalten außerhalb des Internet erkennen. Der wesentliche Unterschied zwischen Internet und dem Rest der Welt liegt in der vermeintlich leichteren, jedoch bislang nicht umgesetzten (oder als ausreichend empfundenen) Kontrollierbarkeit des Internets.

Also nochmal für diejenigen, die es noch nicht mitbekommen haben: das Internet ist ein Spiegel dieser Welt. Böse Menschen machen damit böse Sachen, gute Menschen gute. Vergleicht es meinetwegen mit einer Autobahn: da fahren üppige Karossen neben abgeranzten Blechkisten, Polizisten neben Kriminellen. Die Autobahn bringt potenzielle Täter zu ihren Opfern, die sie ohne Autobahn nicht oder nur schlecht erreichen würden. Hat das was mit der Autobahn zu tun? Stellen wir deswegen - und wir WISSEN, dass es passiert - an allen Auf- und Abfahrten Kontrollpunkte auf, um Verbrechen aufzuklären? Kaum!

Merke: das Internet hat mit Kindesmissbrauch soviel zu tun, wie ein Auto mit einem Mord. Im Internet können potenzielle Täter ihre Opfer kennenlernen, wie Mafiosi mit dem Auto zu den ihren fahren. Doch der eigentliche Akt passiert weder im Internet, noch (oder zumindest selten) mit dem Auto. Ist so!

Das Widerlichste an diesem Format ist aber die mediale Ausschlachtung von (versuchten) Verbrechen, die von Menschen verübt werden, die - zumindest nach WHO-Gesichtspunkten (vgl. ICD-10, F65.4) - als krank einzustufen sind. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, sollten also Pädokriminelle tatsächlich als krank einzustufen sein, stellt sich die interessante Frage nach ihrer Zurechnungsfähigkeit. Manche fordern ja geradezu eine "Neuroethik". Ob's das tatsächlich braucht, sei mal dahin gestellt. Gleichwohl - Kranke gehören in Behandlung, meinetwegen in geschlossen-stationäre, Verbrecher ins Gefängnis - aber keinesfalls ins Fernsehen!

"Warun brechen Sie jetzt ein? Warum brechen Sie jetzt ein?" (37'57") wird der potenzielle Täter gefragt, dabei dürfte doch offensichtlich sein, dass das Leben dieses Mannes, wenn das alles so stimmt, nun eine harte Wendung nehmen wird. Straf- und disziplinarrechtliche Konsequenzen drohen (vgl. § 176 StGB Abs. 6), evtl. der Verlust seines Beamtenverhältnisses und Arbeitsplatzes.Und da fragen wir fröhlich nach: was hat er denn, der Kleine?

Kindesmissbrauch ist eine hässliche Sache - ohne Zweifel. Das StGB sieht entsprechende Strafen vor. Also dann nichts wie zur Polizei und Anzeige erstatten. Doch oh' Schreck - was passiert:
"Leider reicht das Material [...] den Ermittlungsbehörden nicht aus, einen Anfangsverdacht zu generieren [..]."
(45'05")
Wie bitte? Da verabredet sich ein deutlich erwachsener Mann mit einem minderjährigen Mädchen (die Chatprotokolle und das aufgenommene Eingeständnis des Mannes, deren Autor zu sein dürften ja mit dazu zählen) unter Bezug auf die schlüpfrigen Stellen, und DAS soll nicht als Anfangsverdacht z.B. für eine Hausdurchsuchung genutzt werden können??2?
Bei dem, welcher als Täter oder Teilnehmer einer Straftat oder der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig ist, kann eine Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sachen sowohl zum Zweck seiner Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde.
Ok, was könnte hinter der Zurückweisung des Materials stehen? Das Bild- und Tonmaterial ist natürlich nicht gerichtsfest, da unrechtmäßig erhoben (§ 201 STGB, Vertraulichkeit des Wortes). In einem sich evtl. ergebenden Verfahren dürfte es also nicht verwendet werden. Aber ein Anfangsverdacht sollte sich damit schon begründen lassen. Oder...?

Mir kommt das Ganze sowieso recht seltsam vor. So ist es doch interessant, dass die mutmaßlich potenziellen Pädokriminellen immer schön das Spiel mitmachen. Da sitzt einer eben noch mit seiner vermeintlichen Liebschaft am Tisch, die sich kurz auf die Toilette verabschiedet. Kaum dass sie aufgestanden ist (!), setzt sich die verdeckte Privatermittlerin an den Tisch und beginnt, den potenziellen Täter auszufragen und Vorhaltungen zu machen (ab 32'10"). Und der bleibt einfach sitzen. Steht, wie auch schon im ersten Fall, brav Rede und Antwort. Als hätte er nicht realisiert, dass er in eine Falle geraten ist. Wieso geht er überhaupt auf die ganze Fragerei ein? Da setzt sich jemand mir nichts, dir nichts, an den Tisch und beginnt umstandslos mit Fragen. Und statt sich solche zu verbitten - etwa gleich die erste Frage: "Was machen Sie hier?" - oder einfach zu gehen, macht er einfach mit. Seltsam...

Ok, ich will RTL II glauben, dass es sich hier um tatsächlich mit versteckter Kamera aufgenommene reale Ereignisse ohne Schauspieler, Drehbuch usw. handelt. Aber ein bisschen merkwürdig kommt mir das schon vor...

Aber vielleicht sollte man das Ganze nicht zu ernst nehmen. Schließlich sieht man ja gleich auf der Internet-Seite, um was es geht: "RTL II - it's fun." Geht das eigentlich nur mir so, oder hat Udo Nagel eine vage Ähnlichkeit mit Horst Schlämmer?


Hach, ich freu' mich schon richtig drauf, wenn endlich mal die Running Man-Show Einzug ins Fernsehen hält. Dann lege ich mir vielleicht auch wieder so ein Ding zu. Vorher aber ganz sicher nicht!

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Blogosphäre in der Krise

Maingold-Blogger Marius hat in einem Beitrag auf die Krise in der Blogospähre hingewiesen: Am Krankenbett der Blogosphäre – oder von der fehlenden Motivation zu bloggen.

Die Blogosphäre in der Krise - wer hätte das gedacht?! Vor Kurzem, z.B. auf der 10. Republika, feierte sich die Community noch selbst - von Jahr zu Jahr hatte die Anzahl der Tagungsgäste zugenommen und inzwischen wurden sogar schon Stimmen laut, die den Verlust der familiären Atmosphäre beklagten. Das macht einen nicht gerade glauben, die Blogosophäre läge danieder. Auf den ersten Blick. Der zweite zeigt: an der Diagnose könnte was dran sein.

Ok, ich selbst bin jetzt nicht gerade der Hardcore-Blogger und auch sonst nicht so häufig in der Blogosphäre unterwegs. Denn ja länger ich surfe, desto unzufriedener werde ich durch das reine Konsumieren - sofern ich noch die Intention habe, selbst zu bloggen. Das Problem sind - genau wie beim Fernsehen - nicht die vielen Einträge, deren Form und Inhalt zu wünschen übrig lassen. Sondern ganz im Gegenteil sind es die guten Inhalte, die interessanten Beiträge, die Frust erzeugen. Denn schnell bemerkt man: Selbst bei einem 24stündigen Lesemarathon würde man kaum alle die Inhalte erfassen können, die einen interessieren. Es gibt zu viel guten Content, als dass man ihn bewältigen könnte. Mit dieser langsam zur Erkenntnis wachsenden Ahnung stirbt die Lust am Lesen fremder Beiträge ab. Lieber was anderes machen. Oder den Rest des Tages, ausgehend von ein paar zentralen Blogs, surfen - ohne zu kommentieren. Einige Blogs, wie fefe oder nerdcore, sind ja prima Einsprungstellen in die Weiten des Netzes.

Doch die Masse an Blogs bewirkt noch einen weiteren Effekt - nämlich das Gefühl, selbst nichts Originelles mehr zu sagen zu haben: alles wurde schon gebloggt, und zwar ganz sicher profunder und eloquenter als man selbst es vermag. Und wenn nicht heute, dann gestern. Und wenn nicht heute und gestern, dann morgen. Also lässt man nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben.

Wir fassen zusammen: nicht der schlechte, sondern der gute Content befördert die Schrumpfung der Blogosphäre! (Ganz ähnlich übrigens Magdalena auf 25uhr: How Success Kills Usability.)

Aber Moment mal: Schrumpfung? Ja, genau! Die Blogosphäre krankt, doch sie stirbt nicht. Nach einer ersten Phase der Euphorie, in der jeder auf den hippen Zug aufgesprungen ist, kommt jetzt die Phase der Gesundschrumpfung. Natürlich wird es weiterhin Blogs geben, ist doch klar. Ziemlich sicher die, welche heute die Blogcharts anführen. (Man überprüfe diese Aussage ruhig in ein paar Jahren, falls es dieses Blog dann noch geben sollte.)

Und ist das schlimm? Nein, eigentlich nicht. Denn plötzlich macht es wieder Spaß, Blogs zu lesen. Durch die Konsolidierung wird die Welt wieder übersichtlicher - ein bisschen zumindest. Und der Mensch ist nun mal ein Herdentier: Man liest gerne das Medium, das a) die eigene Meinung verstärkt (jaja, is' leider so) und b) dann auch noch viele andere Leute lesen (die ja, s. a) wie man selbst ticken). Und der Rest? Na, der stirbt ab - oder bildet kleine Blog-Cliquen aus: ganz wie früher. Vielleicht trifft man sich dann sogar mal offline. Einstmals (Präinternetium) nannte man solche Veranstaltungen "Usertreffen": Man wollte die Leute (meist Kerle), mit denen man sich austauscht, persönlich bei einem Bier treffen und mal "richtig" kommunizieren, face-to-face. Ich muss gestehen - ich finde diese Vorstellung durchaus nicht unsympathisch!

Ich schreibe wie...

FAZ.net hat sich was Nettes einfallen lassen: auf der Seite Ich schreibe wie... kann man eine Textprobe von sich eingeben und dann die stilistische Nähe zu (hoffentlich) bekannten Autoren berechnen lassen. Wie genau das funktioniert, verrät die Seite natürlich nicht. Immerhin findet sich unter dem Eingabefeld der Hinweis, das Verfahren basiere auf dem englischsprachigen I write like..., das von Coding Robots entwickelt wurde.

Ich habe die Software gleich mal mit einem einseitigen Auszug aus einem meiner Prosamanuskripte ausprobiert, und siehe da:

Uwe Johnson


Selbstverständlich fühle ich mich geehrt, angesichts der attestierten stilistischen Nähe zu einem so bedeutenden deutschen Nachkriegsschriftsteller. Betroffen gemacht hätte mich indes eine Nähe zu ... aber lassen wir das.

Ob sich die Annahmechancen eines Manuskripts indes erhöhen, tackerte man das obige Zertifikat daran - das steht freilich auf einem anderen Blatt. In jedem Fall trägt es ein wenig zu Eigenmmotivation bei :-)

Dienstag, 21. September 2010

Medienmachtmissbrauch

Inzwischen hat sich der Skandal gelegt, die Medienkarawane ist weitergezogen. Genau der richtige Zeitpunkt um Abstand zu gewinnen, einmal tief Luft zu holen und eine der Pressemeldungen, die vor kurzem die Gemüter erhitzte, neu zu betrachten.

Gemeint ist hier keineswegs der Streit um die Thesen Thilo Sarrazins, gleichwohl dieser ebenfalls einer enthysterisierten Betrachtung bedürfte. Einen großen Schritt in diese Richtung hat Matthias Matussek an weitaus prominenterer Stelle unternommen, weswegen hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll.

Nein, es geht vielmehr um folgende und vergleichbare Meldungen:
Sex-Skandal in Kur-Klinik auf Sylt
(Bild, 13.09.2010)
Missbrauchsverdacht in Kinderklinik - Schatten über Sylt
(Spiegel Online, 20.09.2010)
Was war geschehen? In der DAK-Kinderkurklinik Haus Quickborn soll es zu sexuellem Missbrauch gekommen sein! Entsprechend hoch ist die Empörung, sind doch die zahlreichen Missbrauchsfälle in Einrichtungen der katholischen Kirche und der Odenwaldschule noch gut im Gedächtnis. Die Gemüter sind erhitzt: jahrelang war erlittenes Leid totgeschwiegen und verdrängt worden, nun soll eine neue Offenheit der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger einen Riegel vorschieben. Ganz in diesem Sinne ist auch das unlängst erschienene Buch Stephanie zu Guttenbergs zu verstehen: "Schaut nicht weg!" Nein, weggesehen werden soll wahrlich nicht mehr. Vielmehr hell auszuleuchten ist der dunkle Sumpf des Missbrauchs, in dem unablässig ungezählte Kinderkörper und -seelen geschändet werden.

Bei näherer Betrachtung der Meldungen stellt sich indes ein schales Gefühl ein. "Missbrauch in Kurklinik", das klingt nach Zuneigung heuchelnden Betreuern, die unter windigen Vorwänden körperliche Nähe zu ihren Schützlingen suchen. Doch tatsächlich geschah, sofern sich dies aus den bekannt gewordenen Informationen erschließen lässt, etwas gänzlich anderes: In einer Gruppe von Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren ist es zu sexuellen Handlungen gekommen. 13 der 16 in der Wohngruppe untergebrachten Kindern haben sich an einem Flaschendreh-Spiel beteiligt, dessen Aufgaben sexueller Natur waren. Dabei wurde mindestens ein Kind gegen seinen Wille zum Mitmachen genötigt.

Allerdings habe es offenbar auch einen Gruppendruck gegeben. Wer die Aufgaben nicht erfüllt habe, sei als "Angsthase, Memme und Spielverderber beschimpft" worden.
(Quelle: Spiegel Online)
OMG - WER HÄTTE SOLCHES JE VERMUTET??? Sexspielchen im Jungenlager!!! Wer kann den so was ahnen?

Ja, wer? Vielleicht jeder, der selbst einmal an Jugendlagern teilgenommen hat. Oder - wem solches ferne liegt - wer einmal Robert Musils Novelle "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" (1906) gelesen hat. Insbesondere Musils Textbeispiel zeigt drastisch, wie wenig erotisch, dafür umso sadistischer solche sexuellen Annäherungen verlaufen können.

Doch was soll man nun von der DAK, die es in diesem Fall nun einmal getroffen hat, erwarten? Rundumüberwachung der Schutzbefohlenen? Einzelunterbringung? Keuschheitsgürtel? Und warum müssen überregionale Medien über diesen Fall berichten? Hinsichtlich der Missbräuche im Rahmen der katholischen Kirche und der Odenwaldschule war eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema förderlich, erhielten doch auf diese Weise auch bislang Ungehörte die Möglichkeit zur Äußerung. Missstände konnten offengelegt werden, die auf strukturelle Fehler in den Systemen (katholische Kirche, Odenwaldschule) verweisen. Doch in diesem Fall?

Zweifelsohne: Gruppendruck ist unangenehm, verletzend. Wer hätte dies nicht selbst am eigenen Leib erfahren? In Kindergarten, Schule, Universität, im Beruf, in der Freizeit, wahrscheinlich auch im Altenheim: überall, wo Menschen aufeinander treffen, baut die Mehrheit einen Druck auf die Einzelnen auf, mal mehr, mal weniger subtil. Wer sich diesem Druck entziehen möchte, hat es schwer, leidet, der eine leise, der andere laut. Und so unerfreulich es ist: es gehört zum Erwachsenwerden mit dazu. Sich durchzusetzen, sich zu entziehen. Kämpfen, Weglaufen oder Verhandeln - das sind die Optionen, von denen jede ihre Zeit, ihre Berechtigung hat. Zu lernen, sich ihrer angemessen zu bedienen, gehört zu den wichtigen Aufgaben der Kindheit und der Jugend - vielleicht des Lebens insgesamt. Es ist eine Frage von Bildung.

Und diese Frage der Persönlichkeitsbildung wird plötzlich öffentlich. Das Thema passt zu gut, ist zeitgemäß. Sex sells. Vom Missbrauch ist die Rede, doch missbraucht wird der Leser, und auch das kindliche Opfer dieses Falls. Es wird ein zweites Mal geopfert - dieses Mal auf dem Altar des Kommerz. Hier geht es nicht mehr um die persönlichen Belange von einzelnen, von der Aufdeckung struktureller Fehler in Systemen, letztlich um die Besserung defizitärer Zustände. Denn zu bessern ist nichts, allenfalls wenig. Nein, es geht hier um Profaneres, es geht um Geld!

Was, um noch einmal auf die Frage zurück zu kommen, ist die jetzt zu ziehende Lehre? Sicher nicht eine stärkere Überwachung der Kindergruppen. Vielmehr eine verstärkte Sensibilität von Eltern und Betreuern hinsichtlich der Kümmernisse einzelner Kindern, die leiden, weil sie zu Opfern wurden - und dies nicht nur bei Doktorspielchen oder Flaschendrehen - denn es geht nicht um Sex! Vor allem aber auch die Bereitschaft, Kindern ihre Freiräume zu lassen, sich auszuprobieren, allein und gemeinschaftlich - ja: auch sexuell. Und da haben Erwachsene nur eine Pflicht: wegzuschauen! Genauer: Schaut nicht hin!

Die wichtigste Lehre jedoch ist. für all das braucht es BILD und Co. sicher als aller, aller letztes!