Montag, 30. August 2010

Der ahistorische Geist nach Spengler und die Schriftkultur des Internet

In seinem berühmt-berüchtigten Untergang des Abendlandes (Orig. 1917, 1922. Zit. nach dtv 1972) schreibt Oswald Spengler in der Einleitung:
Das Weltbewusstsein des indischen Menschen war so geschichtslos, dass er nicht einmal die Erscheinung des von einem Autor verfassten Buches als zeitlich feststehendes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne dass die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätte.

(A.a.O., S. 15, herv. v. Soph.)
Es ist ein reizvoller Gedanke, sich die Perspektive eines Historikers der ferneren Zukunft vorzustellen, wenn er dereinst einen Blick auf die überkommenen Fragmente des heutigen Internets wirft. Einmal angenommen, der Textkorpus aller heutigen Blogs bliebe einigermaßen erhalten, würde daraus vermutlich ein nicht allzu anderes Bild entstehen wie das, welches Spengler dem antiken (im Zitat indischen) Geist zuspricht - das eines vornehmlich ahistorischen Gegenwartsbewusstseins.

Dabei sind wir uns freilich stets des aktuellen Datums bewusst, verstehen die Chronologie der Jahre zu deuten. Jeder Blogeintrag wird mit Datum und Uhrzeit abgelegt und auch die Verlinkungen ermöglichen - in gewissen Grenzen - eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte.

Wer könnte sich in der "Blogosphäre" - der Gesamtheit aller Blogs - noch der Autorenschaft eines originellen Gedankens rühmen, da doch seine Abhängigkeit von den Ideen anderer so offenkundig ist, da stets andere ganz ähnliche Gedanken hegen und sie notieren. Die Blogosphäre so weniger einem Wald von klar voneinander abgegrenzten Bäumen, sondern mehr einem koloniebildenden Organismus, wie etwa der Koralle. Meme wechseln frei flottierend hin und her, entwickeln, verändern sich, verschwinden im Dunkeln bis sie unverhofft wieder emportreten. (Man denke hier an den von Ludwik Fleck geprägten Begriff des "Denkkollektivs".)

Der Grund für den ahistorischen Charaker der Blogs liegt in ihrer aphoristischen Natur, d.h. in ihrer Kürze. Zwar sind die Beiträge eines Blogs oft thematisch ausgerichtet damit inhaltlich miteinander verwandt. Doch ist dieser Zusammenhang lose und jeder Beitrag steht zunächst einmal für sich alleine. Eine geschlossene Abhandlung in Form einer Reihe von Blogbeiträgen ist zwar denkbar und technisch möglich, würde aber doch die Intention des Mediums verfehlen und die Gegebenheit seiner technischen Realisierung missachten. Man denke etwa daran, dass die Beiträge eines Blogs meist chronologisch von jung nach alt sortiert sind, während der Leser eines Buchs eine inhaltlich aufbauende, d.h. chronologisch umgekehrte Reihenfolge bevorzugt. (Diesem Aspekt wäre indes leicht auf technischem Wege entgegen zu treten, indem man die Sortierrichtung umkehrt.)

Die interessanteste Frage weist dabei allerdings in Richtung der Rezipienten: Ich wage zu vermuten, dass nur in den aller seltensten Fällen eine Bereitschaft besteht, sich auf die Beiträge eines Blog einzulassen, das dem Umfang eines normalen Buches entspricht: etwa 200-400 Seiten. Die für eine solche Lektüre zu erübrigende Zeit dürfte die Aufmerksamkeitsspanne auch interessierter Leser nicht unerheblich überschreiten.

Dessen ungeachtet wäre es allerdings ein überaus spannendes Experiment, ein umfassenderes Werk tatsächlich öffentlich zu entwickeln, und dem Leser unmittelbar die Gelegenheit zur Kommentierung zu geben. Zur Realisierung des Idealfalls, nämlich der Möglichkeit, beliebige Textstellen zu kommentieren, eignet sich Blogtechnik jedoch nur bedingt, die Kommentare doch nur für größere Texteinheiten zulässt. Zur Umsetzung dieses Experiments bedürfte es also einer Abwandlung der Blogtechnik, bei der am besten auch gleich die Möglichkeit einer Referenzierung von Kommentaren eingerichtet wird (was jetzt nur eingeschränkt möglich ist, da sich jeder Kommentar zunächst auf den Haupttext, d.i. Blogbeitrag bezieht.) Was hierbei entstehen würde, wäre eine dem Talmud entsprechende Sammlung von aufeinander bezogenen Texten und Kommentaren.

So reizvoll diese Vorstellung eines öffentlich erstellten Textes auch ist (die Idee ist wahrlich nicht neu), stellt sich doch die Frage, welcher Verfasser bereit wäre, sein Werk vor aller Augen zu entwickeln, verbindet sich doch mit dem Entstehungsprozess komplexerer Texte meist eine gewisse Scham. Wie weit dieses möglicherweise veraltete Konzept von Zurückhaltung heute jedoch noch Gültigkeit besitzt, lasse ich hier dahin gestellt. Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass sich nicht irgendjemand findet, der hierzu bereit wäre - die Frage ist nur, inwieweit irgendjemandes Produkt mit Gewinn zu lesen wäre. Doch auch dafür würden sich sicher Leser finden.

Das beste Beispiel eines ahistorischen Textes, wie Spengler ihn im o.g. Zitat beschreibt, ist zweifelsohne die Wikipedia: eine vage Textmasse, in die jeder hineinschreibt, was er will, ohne dass die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle spielten. Dabei versteht sich von selbst, dass die Entstehungsgeschichte jedes Beitrags sorgfältigst dokumentiert ist. Auch von einer Anonymität kann nur bedingt gesprochen werden; tatsächlich ist sie dennoch oft der Fall, indem Autoren und Beiträger sich nicht in jedem Fall mit der bürgerlichen Identität zu erkennen geben, ggf. nur eine IP-Adresse im Log vermerkt wird. Doch das ist keineswegs das Wesentliche. Weitaus gewichtiger ist das fehlende Interesse an der Urheberschaft seitens des Lesers eines Wikipedia-Beitrags. Wer jenseits akademischer Studien machte sich schon die Mühe, die Entstehung eines Wikipedia-Artikels haarklein von seiner ersten bis zur aktuell letzten Version zu verfolgen? In ehrwürdigen Enzyklopädien sind die Beiträge oft namentlich gekennzeichnet, etwa im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Der Wikipedia ist dieses Konzept gänzlich fremd und widerspricht ihrem Grundverständnis eklatant. 

So mag es scheinen, dass wir gegenwärtig wieder auf dem Weg zu einem ahistorischen Bewusstsein sind, zu dem Bewusstsein eines reinen Gegenwartsmenschen. Diesem läge keineswegs das Fehlen historischer Aufzeichnungen zugrunde, sondern vielmehr ihre überbordende Fülle. Jedenfalls würde sich damit der dialektische Kreis in der Entwicklung der Kulturen schließen und in die nächste Iteration eintreten. Es bleibt spannend zu beobachten, wie sich aus den Gegebenheiten der Gegenwart ein neuer Geist entwickelt.

Sonntag, 15. August 2010

Vom Recht und Unrecht auf's tote Tier

In Ausgabe 33/2010 der ZEIT fragt Iris Radisch im Feuilleton "Wer darf wen töten und warum?" (S. 41f)

Also: Warum essen wir Tiere? Die Gründe sind so einfach wie banal. Weil wir es können! Weil ihrVerzehr in dunklen Vorzeiten, vielleicht bis in die nicht allzu ferne Vergangenheit, einmal die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit und die des Clans erhöhte. Weil sich seit dieser Zeit eine Kultur um das Fleisch entwickelte, den des Fleischgenusses ebenso wie seine Produktion. Weil die Konzerne, die Fleisch produzieren, eine erhebliche Wirtschaftsmacht darstellen, die kaum leicht vom Vegetarismus zu überzeugen sein dürften.

Man möge mich nicht falsch verstehen: Auch ich bin ein (Semi-)Vegetarier, esse kein Säugetier, dafür aber durchaus und auch mit Genuss Geflügel und Meeresgeschnetz. Mein Entschluss, künftig auf den Konsum von Säugetierfleisch zu verzichten - er liegt mittlerweile 12 Jahre zurück -, rührt von einer kurzen Film-Dokumentation (ein Vorfilm in einem kommunalen Kino) eines Schweinelebens: vom Wurf bis zum Haken, an dem es ausblutete. Diese Bilder reichten aus, mein diffuses Unwohlsein beim Fleischkonsum endlich auf den Punkt zu bringen - diese Massentierhaltung von Säugetieren, die wir letztlich auch selbst sind, konnte und wollte ich nicht mehr unterstützen. So ist es bis heute geblieben und in dieser Hinsicht stimme ich Frau Radisch zu. Dennoch handelt es sich bei ihrem Artikel in meinen Augen um einen überaus ärgerlichen.

Denn: welches Recht der Mensch hätte, Tiere zu essen, fragt sie. Ja, welches Recht? Als gäbe es so etwas jenseits der Sphäre des Menschen. Eine Art Naturrecht wohl gar? Ein göttliches? Sollte man von dieser Idee nicht mindestens ebenso geheilt sein, wie vom Hang zum toten Tier? Recht hat man nicht, man bekommt es. Es wird einem zugesprochen (im Gerichtsprozess). Dass man Recht besitzen zu glaubt, ist nichts als eine alltagssprachliche Verkürzung. Und das menschliche Recht ist (Zwischen-)Ergebnis eines endlosen Aushandlungsprozesses zwischen den verschiedenen Parteien. Wer dies anders sieht, wird zwangsläufig in die Situation kommen, sein Recht, das er zu besitzen meint, als göttlich (oder wie auch immer) legitimiert anzusehen und zu verteidigen. Welches Leid, welche Not diese Vorstellung über die Menschheit brachte, bedarf, so denke ich, keiner weiteren Erläuterung.
Was folgt daraus? Der Mensch hat durchaus kein Recht, Tiere zu essen, doch er bedarf auch keines! Zumindest nicht solange, bis sich eine hinreichend große Partei für den Schutz der Tiere einsetzt. Die dann ihrerseits in verzwickte ethische Fragen gerät. Etwa, inwiefern der Löwe die Gazelle so gänzlich unter Missachtung jeglicher Tierschutzkonventionen bei lebendigem Leib verspeisen darf. Sollte man ihn von diesem Tun nicht ebenso abhalten, wie einen Pittbull, der einen Menschen zu beißen droht? Ach so, mag man da hören, das widerspräche der Natur des Löwen. Als würde die existieren jenseits der menschlichen Vorstellungen. Und die Gazelle wird sich "bedanken" für diese halbseidene Entschuldigung ihrer Tötung.
Wer es wirklich ernst meint mit dem Tierschutz kommt nicht umhin, auch in die "natürliche" Ordnung der Dinge einzugreifen, die Savanne sauber zu teilen in den Bereich der Löwen und den der Gazellen, und jeden Versuch einer Grenzübertretung sorgfältig zu vereiteln. Eine lächerliche Vorstellung? Ja nun...

Das Naturrechtliche lasse man also dort, wo es hingehört - in der Mottenkiste der Philosophiegeschichte. Viel mehr Aufmerksamkeit verdienen praktische Ansätze: mit dem Festhalten an der Massentierhaltung schädigen wir uns selbst mehr, als uns bewusst ist. Das tägliche Schnitzel, das Steak, die Grützwurst (deren spezielle Zubereitung auch gerne als "Tote Oma" bezeichnet wird und das Auge des Ästhetikers auf's empfindlichste beleidigt) auf den Tellern von uns Bildschirmarbeitern wird man nur dann verbannen können, wenn man die Konsumenten vom Nachteil der Fleischproduktion nachhaltig überzeugt. Nicht mit pseudoromantischhippiehaftem Wohlfühlgefasel, sondern klaren Ansagen über die gesamtgesellschaftliche Kosten, die dieser Lebenswandel mit sich bringt.

Sicher - auch dies wird nicht gleich jeden von seiner Speise abhalten. Denn wieviele genießen noch immer die Freiheit und Flexibilität, die uns das Auto bietet, wohlweißlich, dass es letztendlich sowohl Mensch als auch Natur zum Nachteil gereicht. Und wer betrachtet schon die Gesamtökobilanz seines Laptops...? Aber es wäre schon mal ein großer Schritt in die richtige Richtung. Was braucht es noch? Zum Beispiel gestaffelte Steuern auf Fleisch, je nach Produktionsart: den niedrigsten Steuersatz auf das Fleisch der glücklichen Kuh, den höchsten auf Fleisch aus nicht artgerechter Haltung. Was wird passieren? Fleisch wird (auf transparente Weise) teurer, man kann wählen (was vielen eine Gut an sich ist) und hat womöglich sogar die Fleischindustrie auf seiner Seite, die sich allerdings wird umstellen müssen. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die Flächen für Nutztierhaltung nicht übermäßig wachsen, um nicht auf der anderen Seite Schäden zu provozieren, etwa durch Abholzung von Wald. Und dass die Besteuerung nicht nur für einheimisches Fleisch gilt, sondern auch für importiertes.

Man darf nicht blauäugig sein - eine solche Umstellung bedarf erheblicher politischer Umsetzungskraft. Nicht nur die Fleischlobbyisten werden Sturm laufen. Auch von vielleicht unerwarteter Seite wird Kritik laut werden, etwa von Vertretern der sozial schwächer Gestellten. Denn gutes Fleisch würde damit wieder zu dem Luxusgut, das es früher einmal war. Kaum wahrscheinlich, dass dieser (künstliche) Bruch im Sozialgefüge allseits toleriert werden wird. Es wird weniger Fleisch verzehrt werden, und es werden die Einkommensstärkeren sein, die dies tun. Unglücklicherweise wird sich vermutlich just dort die Einsicht um die Notwendigkeit einer Verringerung des Fleischkonsums schneller durchsetzen, als in den einkommensschwächeren Schichten. Nun, das ist dann ein anderes Problem...

Was ist also das Fazit: Die Fleischproduktion muss gedrosselt, der Fleischkonsum reduziert werden. Doch erreicht man dies nicht mit windigen Verweisen auf ein Naturrecht, das es so nicht gibt, sondern durch pragmatische Ansätze. Die ethische Untermauerung mag hier hilfreich sein, notwendig ist sie keineswegs.

[Update: Hier der Link auf den Originalartikel bei ZEIT-Online, der zum Zeitpunkt der Erstellung  dieses Beitrags noch nicht online verfügbar war.]