Samstag, 25. April 2009

Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Dass Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht [»die Wirtschaft«] –, dass es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergaß das... Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur. [...] – Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für [die Wirtschaft] nutzbar, ausnutzbar zu machen. »Höhere Erziehung« und Unzahl – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muss privilegiert sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle großen, alle schönen Dinge können nie Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum. – Was bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Dass »höhere Erziehung« kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der »allgemeinen«, der gemein gewordnen »Bildung«... Nicht zu vergessen, dass militärische Privilegien den Zu-viel-Besuch der höheren Schulen, das heißt ihren Untergang, förmlich erzwingen. – Es steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß... Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden – mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen, [...] dazu hat man vielleicht Ursachen – Gründe dafür gibt es nicht.

nach: Friedrich Nietzsche
(mit leichten Abwandlungen)
Götzendämmerung
vgl. KSA 6, S. 107f

Samstag, 21. März 2009

Ökologie der Vernunft

Das folgende Zitat Willy Hochkeppels fiel mir längstens schon in die Hand:
In der Philosophie, um endlich darauf zu kommen, werden Gesamtausgaben auch mittelmäßiger Denker, die uns kaum mehr etwas zu sagen haben, von emsigen und sonst beschäftigungslosen Hochschulangestellten aus ihrem wohlverdienten Schlummer gerissen. [...] Auch Denkern ist unzuträglich, wenn nichts mehr gnädiger Vergessenheit anheimfällt und in der Versenkung der Zeit verschwindet, auch im Reich der Ideen gibt es eine Ökologie, die die Vernunft bei Gesundheit hält. Wenn jetzt auch dem Mist das Recht auf's Vermodern genommen und er als unverderbliche Ware ausgewiesen wird, weil die Märkte allem offenstehen, dann droht die Gefahr der Vergiftung, zumal Historismus und Relativismus unsere Wertmaßstäbe pluralistisch biegsam gemacht und ästetisch dem Eklektizismus ausgeliefert haben.
(Willy Hochkeppel, Endspiele.
Zur Philosophie des 20. Jahrhunderts
dtv 1993, S. 10f.)
Ich sehe mich außerstande, Hochkeppel in diesem Punkt zu widersprechen.
Was will uns die Ökologie der Vernunft lehren? Nicht überwiegend zurück sollen wir unsere Blicke richten, sondern nach vorn. Sapere aude!