Dienstag, 21. September 2010

Medienmachtmissbrauch

Inzwischen hat sich der Skandal gelegt, die Medienkarawane ist weitergezogen. Genau der richtige Zeitpunkt um Abstand zu gewinnen, einmal tief Luft zu holen und eine der Pressemeldungen, die vor kurzem die Gemüter erhitzte, neu zu betrachten.

Gemeint ist hier keineswegs der Streit um die Thesen Thilo Sarrazins, gleichwohl dieser ebenfalls einer enthysterisierten Betrachtung bedürfte. Einen großen Schritt in diese Richtung hat Matthias Matussek an weitaus prominenterer Stelle unternommen, weswegen hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll.

Nein, es geht vielmehr um folgende und vergleichbare Meldungen:
Sex-Skandal in Kur-Klinik auf Sylt
(Bild, 13.09.2010)
Missbrauchsverdacht in Kinderklinik - Schatten über Sylt
(Spiegel Online, 20.09.2010)
Was war geschehen? In der DAK-Kinderkurklinik Haus Quickborn soll es zu sexuellem Missbrauch gekommen sein! Entsprechend hoch ist die Empörung, sind doch die zahlreichen Missbrauchsfälle in Einrichtungen der katholischen Kirche und der Odenwaldschule noch gut im Gedächtnis. Die Gemüter sind erhitzt: jahrelang war erlittenes Leid totgeschwiegen und verdrängt worden, nun soll eine neue Offenheit der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger einen Riegel vorschieben. Ganz in diesem Sinne ist auch das unlängst erschienene Buch Stephanie zu Guttenbergs zu verstehen: "Schaut nicht weg!" Nein, weggesehen werden soll wahrlich nicht mehr. Vielmehr hell auszuleuchten ist der dunkle Sumpf des Missbrauchs, in dem unablässig ungezählte Kinderkörper und -seelen geschändet werden.

Bei näherer Betrachtung der Meldungen stellt sich indes ein schales Gefühl ein. "Missbrauch in Kurklinik", das klingt nach Zuneigung heuchelnden Betreuern, die unter windigen Vorwänden körperliche Nähe zu ihren Schützlingen suchen. Doch tatsächlich geschah, sofern sich dies aus den bekannt gewordenen Informationen erschließen lässt, etwas gänzlich anderes: In einer Gruppe von Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren ist es zu sexuellen Handlungen gekommen. 13 der 16 in der Wohngruppe untergebrachten Kindern haben sich an einem Flaschendreh-Spiel beteiligt, dessen Aufgaben sexueller Natur waren. Dabei wurde mindestens ein Kind gegen seinen Wille zum Mitmachen genötigt.

Allerdings habe es offenbar auch einen Gruppendruck gegeben. Wer die Aufgaben nicht erfüllt habe, sei als "Angsthase, Memme und Spielverderber beschimpft" worden.
(Quelle: Spiegel Online)
OMG - WER HÄTTE SOLCHES JE VERMUTET??? Sexspielchen im Jungenlager!!! Wer kann den so was ahnen?

Ja, wer? Vielleicht jeder, der selbst einmal an Jugendlagern teilgenommen hat. Oder - wem solches ferne liegt - wer einmal Robert Musils Novelle "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" (1906) gelesen hat. Insbesondere Musils Textbeispiel zeigt drastisch, wie wenig erotisch, dafür umso sadistischer solche sexuellen Annäherungen verlaufen können.

Doch was soll man nun von der DAK, die es in diesem Fall nun einmal getroffen hat, erwarten? Rundumüberwachung der Schutzbefohlenen? Einzelunterbringung? Keuschheitsgürtel? Und warum müssen überregionale Medien über diesen Fall berichten? Hinsichtlich der Missbräuche im Rahmen der katholischen Kirche und der Odenwaldschule war eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema förderlich, erhielten doch auf diese Weise auch bislang Ungehörte die Möglichkeit zur Äußerung. Missstände konnten offengelegt werden, die auf strukturelle Fehler in den Systemen (katholische Kirche, Odenwaldschule) verweisen. Doch in diesem Fall?

Zweifelsohne: Gruppendruck ist unangenehm, verletzend. Wer hätte dies nicht selbst am eigenen Leib erfahren? In Kindergarten, Schule, Universität, im Beruf, in der Freizeit, wahrscheinlich auch im Altenheim: überall, wo Menschen aufeinander treffen, baut die Mehrheit einen Druck auf die Einzelnen auf, mal mehr, mal weniger subtil. Wer sich diesem Druck entziehen möchte, hat es schwer, leidet, der eine leise, der andere laut. Und so unerfreulich es ist: es gehört zum Erwachsenwerden mit dazu. Sich durchzusetzen, sich zu entziehen. Kämpfen, Weglaufen oder Verhandeln - das sind die Optionen, von denen jede ihre Zeit, ihre Berechtigung hat. Zu lernen, sich ihrer angemessen zu bedienen, gehört zu den wichtigen Aufgaben der Kindheit und der Jugend - vielleicht des Lebens insgesamt. Es ist eine Frage von Bildung.

Und diese Frage der Persönlichkeitsbildung wird plötzlich öffentlich. Das Thema passt zu gut, ist zeitgemäß. Sex sells. Vom Missbrauch ist die Rede, doch missbraucht wird der Leser, und auch das kindliche Opfer dieses Falls. Es wird ein zweites Mal geopfert - dieses Mal auf dem Altar des Kommerz. Hier geht es nicht mehr um die persönlichen Belange von einzelnen, von der Aufdeckung struktureller Fehler in Systemen, letztlich um die Besserung defizitärer Zustände. Denn zu bessern ist nichts, allenfalls wenig. Nein, es geht hier um Profaneres, es geht um Geld!

Was, um noch einmal auf die Frage zurück zu kommen, ist die jetzt zu ziehende Lehre? Sicher nicht eine stärkere Überwachung der Kindergruppen. Vielmehr eine verstärkte Sensibilität von Eltern und Betreuern hinsichtlich der Kümmernisse einzelner Kindern, die leiden, weil sie zu Opfern wurden - und dies nicht nur bei Doktorspielchen oder Flaschendrehen - denn es geht nicht um Sex! Vor allem aber auch die Bereitschaft, Kindern ihre Freiräume zu lassen, sich auszuprobieren, allein und gemeinschaftlich - ja: auch sexuell. Und da haben Erwachsene nur eine Pflicht: wegzuschauen! Genauer: Schaut nicht hin!

Die wichtigste Lehre jedoch ist. für all das braucht es BILD und Co. sicher als aller, aller letztes!

1 Kommentar:

Lukanga hat gesagt…

Volle Zustimmung!!! 100%

Liebe Grüße